Bergfest: Streunertage auf der Wortwalz

Die Daumenmuskeln dehnen sich

Daumenmuskeln dehnen

Die Wortwalz feiert Bergfest. Anderthalb Monate auf der Straße sind rum, die Hälfte der geplanten Zeit. Bei fünfeinhalb Redaktionen war ich jetzt und bin zuletzt kreuz und quer durch die Republik getippelt. Übernachtet habe ich beim Zuchtbullen Enzo auf der Wiese und bei Schwester Ulrike im Kloster der Dominikanerinnen. Außerdem gelernt: Die Polizei Landsberg ist keine Zimmervermittlung, aber in Rentnerreisebussen kann man super mitfahren.

„Hallo Fans“, brüllt Busfahrer Andi ins Mikrophon, „schaut mal auf Platz 42, da sitzt unsere neue Mitfahrerin, dat is ne Journalistin, also passt auf, was ihr erzählt!“ und plötzlich drehen sich 49 Köpfe zu mir um. Die Hälfe der Köpfe weißgelockt, die ändere Hälfte glatzköpfig. Alle beige gekleidet. Es ist 8:05 Uhr morgens an der Grenze zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt. Ein Reisebus aus Eisenhüttenstadt und seine betagten Gäste sind die Einzigen, die um diese Uhrzeit schon am Rasthof der Autobahn stehen. Und ich. Erste Pipipause auf dem Weg ins Zillertal.

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„Hallo Fans“: Mit Roswitha und Co unterwegs Richtung Süden

In den letzten Tagen bin ich kreuz und quer durch die Republik getrampt. Nach meinem letzten Stopp in Hannover zog es mich raus. Ich wollte mal ein bisschen das Bleiben verlernen. Also tippelte ich durch die Gegend. Das Trampen ist inzwischen meine Leidenschaft geworden. Der Daumenmuskel dehnt sich langsam, die Hemmungen sinken. Hier mal in loser Reihenfolge einige der wunderbaren Menschen, die mich mitgenommen haben:

  • Eine Boutiquebesitzerin, die mich zum Kaffeetrinken zu ihrer 90-jährigen Mutter einlud: Die Dame war gelernte Heraldikerin, also Wappenforscherin, die schon Fahnen für Königshäuser gestickt hat und wunderbar davon erzählen konnte
  • Ein dänisch-thüringischer Schweine-„Produzent“, wie er sich selber nannte, ein sympathischer Herr mit großen Händen und tausenden Säuen auf seinem Hof, der Vegetarier wie mich am liebsten lebendig verspeist. Er erzählte mir von seiner Sorge vor der Afrikanischen Schweinepest und wir waren uns sicher: Normalerweise hätten wir nie ein Wort miteinander gewechselt
  • Eine Krankenschwester, die  in einer Methadonklinik arbeitet und mir erzählte, dass das größte Problem der Drogenabhängigen in Augsburg zur Zeit Badesalze seine, weshalb die Stadt unter Kennern auch „Saltcity“ heiße

So könnte ich noch eine ganze Weile weitererzählen. Anders als bei geplanten Mitfahrgelegenheiten ist das Trampen jedes Mal ein wilder Ritt in eine fremde Welt. Noch nie habe ich mich unwohl gefühlt, aber schon oft habe ich gestaunt. Über Skurriles, über Alltägliches. Väter, die ihre Söhne zum Fußball fahren. Pärchen, die eine neue Matratze im Anhänger durch die Gegend fahren. Studentinnen, die ein Auslandssemester planen. Es sind ganz normale Menschen, die mich mitnehmen. Einige sind früher selbst getrampt, andere sagen, sie wären nie auf die Idee gekommen jemanden mit zu nehmen, wenn ich sie nicht so direkt angesprochen hätte. Meine wunderbare Freundin Vivian, die mich für ein Wochenende begleitete, sagte nach einem langen Tramptag mit acht Lifts staunend: „Die Menschen habe alle ihr Leben.“

Übernachten im Kloster der Dominikanerinnen

Übernachten im Kloster der Dominikanerinnen

Genauso verhält es sich mit den Übernachtungen. Wenn ich nicht gerade bei Journalisten oder Freunden unterkomme, dann muss ich mir eben etwas suchen. Das kostet mich manchmal mehr Überwindung. Wenn man abends an der Autobahn im Dämmerlicht das nächste Dorf ansteuert, kann einen schon der Mut verlassen. In Kleinhelmsdorf  zum Beispiel war wirklich kein Mensch auf der Straße zu sehen. Der Landgasthof hatte montags geschlossen, aber schließlich überredete ich den Sohn der Besitzerin mich auf die Wiese im Hinterhof zu lassen. Dort wartete Enzo auf mich. Ein zotteliger schwarzer Zuchtbulle, mit dem ich mir Wiese und Mondlicht teilte.

Am schwierigsten war es bisher in Landsberg am Lech eine Übernachtung zu finden. Überall hieß es: Geht nicht. Auf dem Campingplatz, im Wirtshaus, im Vorraum des Hotels. Der Nachtportiert schickte mich dann zur Polizeistation, dort solle ich mal fragen. Der Beamte zuckte mit den Schultern und schickte mich schließlich ins Kloster. Die Dominikanerinnen schließlich waren der Hammer. Die Schwestern ließen mich im Gemeinderaum schlafen und nach dem Gottesdienst am Sonntag um 8 Uhr gab es nicht nur ein herrliches Frühstück, sondern auch den herzlichsten Segen für die Wortwalz.

Wenn ich gerade nicht durch die Gegend stromere, schreibe ich Postkarten für meine Crowdfunder oder wühle mich durchs Laub. Denn jetzt ist endlich Kastaniensaison! Ich kann rotbraune Schätze zum Dankesagen sammeln. Überhaupt ist der Gedanke an die zahlreichen Unterstützer, die beim Crowdfunding mitgemacht haben, etwas, das mich stets voran treibt. Ich stelle mir manchmal vor, dass ich stellvertretend für sie auf Reisen gehe und nun deshalb auch mal hurtig, hurtig was erleben muss.

Tatsächlich haben mich viele Gespräche auf der Straße gerührt. In dem anfangs erwähnten ostdeutschen Reisebus saß ich neben Brigitte, 71 Jahre. Mit ihren Freundinnen Roswitha und Renate fährt sie zusammen in den Urlaub, „seit die Männer tot sind“. Das Zillertal genügt ihr heute. Ich staune, wenn die Dame im zitronenfarbenen Dreiviertelhemd von ihren Reisen erzählt. Golden Gate Bridge, Great Barrier Reef und nebenbei noch eine Backstube im Familienbetrieb am Laufen gehalten. Brigitte hat richtig was erlebt. Das macht sie heute gelassen.  „Ich habe die ganze Welt gesehen, mehr brauche ich nicht.“

Ich muss schlucken, als ich das höre. Denn sie ist die Erste, der ich es verzeihe nicht mehr von Fernweh getrieben zu sein. Ich merke, dass ich jetzt langsamer und leichter reise. Bei jeder Station miste ich den Rucksack weiter aus. Und überlege neu: Wann ist es Zeit weiter zu ziehen?

Wo ich mir die Frage nach dem Bleiben und Verweilen gerade stelle, verrate ich hier demnächst. Jedenfalls ist es dort, wo ich bin, so hügelig schön, dass man glatt hängenbleiben könnte. Außerdem habe ich heute auf dem Gehweg einen Glückskekszettel gefunden mit der schönen Botschaft: „Du kannst eine Pause einlegen und entspannen“

Wer langsam geht, findet Glückskekszettel am Wegesrand (Fotos: Vivian Balzerkiewitz)