Scheinheimisch werden

Wie mein Münchner Ortsschild vom Erdboden verschwand und ich auf einer abstrusen Reise versuchte einheimisch zu werden

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So geht die Reise zu Ende

Es war ein langer Weg nach Hause. Nach meinem letzten Lokalredaktionsstopp in Weimar bin ich einfach weitergereist. Die geplanten drei Monate und ein Tag auf der Wortwalz waren rum, aber die Tippelei ging weiter. Und das bereue ich nicht, denn es gab noch einiges zu lernen.

Zum Beispiel, dass Wandergesellen auch mal Zahnweh haben können. Gemeinsam mit einer Schreinerin auf der Walz bin ich zwei Wochen lang durchs Land gezogen und habe versucht noch besser zu verstehen, was es eigentlich bedeutet so unterwegs zu sein. Im November, bei Regen an der Autobahn zu stehen und plötzlich einen Lachanfall zu haben. Im Dunkeln an der Raststätte rumzulungern oder überraschend zwei 50-Euro-Scheine auf der Straße zu finden. In einer Gesellenherberge zu übernachten, kranke Reisekameraden zu pflegen und zwei Tage lang amerikanische Serien im Fernsehen zu gucken. Ja, Walz ist, was du draus machst.

Mainz, Köln, Neustadt an der Weinstraße, Ingolstadt, es ging kreuz und quer. Zwischendurch habe ich einen Stopp in Baden-Baden beim SWR eingelegt für ein Radiogespräch. Gelockt hat mich, dass ich mir Lieder aussuchen durfte wie dieses hier und dieses – die man aber hier im Online-Link des Interviews nicht hören kann. War ein schöner Moment, um mal Bilanz zu ziehen über die vergangenen Monate.

Also, was hat sich verändert, seitdem ich im Juli über das Münchner Ortsschild geklettert bin? Was ist jetzt anders?

  • Das Trampen, die Schlafplatzssuche, das ständige Erklären, was ich unterwegs mache – diese Begleiterscheinungen der Wortwalz sind mir treue Begleiter geworden. Und ich weiß jetzt, dass man immer eine Platte zum Pennen findet.
  • Ich habe stapelweise Abrechnungen diverser Lokalzeitungsverlage über bescheidene Kleckersümmchen im Briefkasten und habe wahnsinnig viel über mein Handwerk dazu gelernt.
  • Ich habe von einer Wandergesellin eine Deutschlandkarte mit einem 50-Kilometer-Bannkreis bekommen, der verschiedene Zureisemöglichkeiten erlaubt.
  • Ich habe unfassbar viele neue Freunde, Bekannte und Kollegen gefunden.
  • Es gibt jetzt Wandergesellen, die meine Mailadresse eingespeichert haben unter der Bezeichnung „Jessica rs Journalistin“. Also Jessica, reisende Journalistin. Darüber bin ich sehr glücklich.
  • Und: Mein Name steht auf der Rückseite deutscher Autobahnschilder.

Und so kam es, dass ich eines morgens nach einem Gesellengelage Gesellentreffen lächelnd aufwachte und dachte: Ich reise jetzt mal nach München. Also begann meine kleine Heimgehtippelei. Durch den Bannkreis lief und trampte ich auf irren Wegen mit der reisenden Tippelschwester. Wir übernachteten bei Harley-Fahrer-Clubs und fuhren nachts Schneepflug. Wir näherten uns München, manchmal laut singend, immer begleitet von dem schlackernden Geräusch, dass ihre Schlaghose beim Gehen machte. Und als dann endlich so weit war, dass ich wieder über mein Ortsschild klettern wollte – DA WAR ES PLÖTZLICH WEG. Offenbar hat die Stadt München beschlossen, im Norden an der B13 eine Fahrbahnerweiterung mitten im November zu machen. Und dabei haben sie mein Ortsschild entwurzelt und mitsamt der halben Flasche Schnaps, die ich dort verbuddelt hatte…

Großartig, dachte ich mir! Ich musste so lachen. Das heißt wohl, ich werde nie ganz Zuhause ankommen. Und das ist auch gut so. Unter Wandergesellen gibt es eine Formulierung für Menschen, die mal auf der Walz waren, aber einfach nicht sesshaft werden wollen, immer wieder losreisen. Die sind dann keine Einheimischen, sondern Scheinheimische. So eine will ich nun sein.

Das entwurzelte Ortsschild habe ich dann übrigens doch noch gefunden. Wir fragten uns durch auf der Baustelle und fanden es schließlich im Laub. Ich nahm es in den Arm, wir begossen es herzlich mit einem Hellen und hinterließen die Notiz: HGP Jessica.

Heimat am Stiel

Heimat am Stiel

Nun also bin ich hier in München sagen wir mal „zwischengeparkt“, bis es bald wieder weitergeht. Denn für kommendes Jahr habe ich schon eine neue Aufgabe. Ich werde als Burgenbloggerin auf die Burg Sooneck im Mittelrheintal ziehen und dort für ein halbes Jahr lang über die Region berichten. Also wird das mit der Sesshaftigkeit höchstens ein Übergangszustand sein. Von ganzem Herzen lade ich hiermit schon mal alle Wandergesellen auf die Burg ein. Die mussten jetzt schließlich lang genug meine Wortwalz ertragen und den einen oder anderen kundigen Handwerker kann man beim Ausbau meiner Kemenate sicher noch gebrauchen…

Und für alle anderen gibt es auch einen Grund zur Freude: Ich bin jetzt wieder erreichbar. Ist komisch wieder Handy, Laptop und ein Klingelschild zu haben. Ist aber auch schön wieder Freunde und einen festen Platz für die Zahnbürste zu haben. Mein lieber Mitbewohner schickte mir zu Begrüßung eine Nachricht: „Dann schlüpf mal schön rein in die Fixiergurte des bürgerlichen Lebens…“

Ich freue mich auf die neue Herausforderung und will in den nächsten Wochen ein paar Pläne schmieden. Ein herzliches Dankeschön an alle, die das hier möglich gemacht habe. Für alle noch ausstehenden Besuche und zu verschickenden Kastanien bitte ich um ein wenig Geduld.

PS: In der Zwischenzeit habe ich noch drei sensationelle Mitteilungen zu machen:

1. Die Feuerwehr Oberweier, die mich beim Trampen in den Schwarzwald in ihrem neuen Löschfahrzeug mitnahm, schreibt mir: „Hallo Jessica. Unser LF 10 ist offiziell an uns übergeben worden, mit einer schönen Feier. Zwei Einsätze hatten wir auch schon damit. Der erste gleich in der Nacht nach der Übergabe, um 4.03 BMA ( sorry, Brandmeldeanlage) Fehlalarm. Und einen Tag später am Montag eine Ölspur auf der Bundesstraße 3.“

2. Der Pfaffenhofener Kurier hat jetzt 1322 Gefällt mir Klicks auf Facebook. Die Redaktion war mein erster Stopp auf der Reise, beim Nachhausegehen habe ich sie nochmals besucht. Die Wandergesellin, die mich dabei begleitete, musste sich von den Kollegen prompt fragen lassen: „Und du bist auch auf der Walz, oder wie?“ Dafür war der Redaktionsleiter aber stolz, dass sich seit unserem letzten Treffen die Zahl der Facebook-Likes erhöht hatte.

3. Außerdem schrieb mir Hausmeister Willems aus dem Westerwald, der sich dort um neuankommende Flüchtlinge kümmert und über den ich in der Westerwälder Zeitung berichtet hatte. Der sympathische Mann mit den lilafarbenen Hosenträgern wurde nach dem Artikel wohl mit Spenden und Zuwendungen für die Geflüchteten überhäuft und war völlig aus dem Häuschen. Er schrieb: „So eine großartige Hilfsbereitschaft habe ich noch nie erfahren dürfen.“ Schön, dass Lokaljournalismus einen Unterschied machen kann.