Station #4 Harburg: Herzblutblatt

Eigentlich. Das ist ein großes Wort. Darin steckt die Kraft Pläne zu ändern. Denn eigentlich wollte ich längst weg sein aus dem Raum Hamburg. Jetzt bin ich doch geblieben. Eigentlich wollte aber auch Peter Noßek in Harburg bloß seine alte Lokalzeitung retten. Jetzt ist er selbst Chefredakteur des „Harburger Blattes“. Das ist ein zwölfseitiges Liebhaberblatt. Eine Schülerzeitung für Erwachsene, wie er sie selber nennt. Und eigentlich macht sie viel zu viel Arbeit, als dass die Leute dahinter sie einfach so nebenbei wuppen könnten. Wie gesagt: eigentlich.

In Harburg landete ich auf Umwegen. Nachdem ich zu Fuß durch den alten Elbtunnel gelaufen war, wollte ich das viel zu schöne Hamburg hinter mir lassen. Ich hielt den Daumen raus und erinnerte mich an den Kommentar eines Wandergesellen, den ich kürzlich kennenlernte: Trampen ist eine Meditation. Aus meiner Versenkung riss mich jedoch ein heranrasender schwarzer Jeep, der mich beinahe auf dem Fußgängerüberweg platt fuhr. „Hey, nehmt ihr mich jetzt wenigstens ein Stück mit?“, rief ich empört. Dann staunte ich: Hinterm Steuer saß Tim Mälzer und rief: „Nee, wir biegen hier gleich ab“ und brauste davon. Pffftt….

Geschrieben mit Herzbluttinte

Geschrieben mit Herzbluttinte: Das Harburger Blatt

Ein Glücksfall für mich, denn so traf ich Volker. Der ist von Beruf Seemanns-Chauffeur und bringt stets Kapitäne vom Hamburger Hafen in die Seemannsmission (in der kürzlich auch die wunderbaren Crowdspondents Steffi und Lisa zu Gast waren). Volker sackte nun mich ein und lud mich zum Bratkartoffelessen in eine Brummifahrer-Kneipe ein. Zwischen zwei Happen erzählte er mir, wie er im Leben noch knapp die Kurve gekriegt hatte, schenkte mir ein Scheinchen philippinisches Geld und ließ mich sodann in Harburg raus. Dort irrte ich durch den Park, als würde ich etwas suchen und traf auf eine Frau mit Goldenem Retriever Labrador (ohne silbernes Besteck). Ich weiß nicht genau was passierte, aber am Ende des Gespräches umarmte sie mich so fest, dass ich kaum noch Luft bekam und sagte ich müsse unbedingt hier bleiben und beim Harburger Blatt vorbeischauen. Okaaay… gefüttert und geliebt von der Welt ließ ich mich darauf ein, heute mal die Zeichen der Straße zu deuten – und zu bleiben.

So landete ich bei Peter. Der eigentlich gerade ganz andere Sorgen hat, als eine freireisende Journalistin bei sich auf zu nehmen. Peter ist Harburger Fotograf und Lokaljournalist, eigentlich. Denn die Zeitung, für die er fast 20 Jahre gearbeitet hat, die Harburger Anzeigen und Nachrichten, gibt es seit letztem Sommer nicht mehr. Weil Peter aber auch zwei Eigenschaften hat, die ich sehr schätze: Größenwahn und Hartnäckigkeit, hat er beschlossen weiter zu machen. Seit Dezember 2013 gibt er das „Harburger Blatt“ heraus. Das Medienmagazin ZAPP fragte sich: „Verrückt oder vernünftig? In Hamburg-Harburg startete am 6. Dezember eine neue Lokalzeitung. Für nur einen Euro, ohne Online-Ausgabe, ohne Überregionales. Kann das gut gehen?“ Es ist irre, was dieser Mann dort macht. Schaut es euch an:

Bei Peter übernachte ich in Rimini. So heißt das winzige grüne Holzhaus, das bei ihm im Garten steht. Im dazugehörigen Haus leben sieben befreundete Parteien und sieben Katzen, im Garten wachsen Chillis und die Holzdielen im Flur knarzen unter den Zeitungskartons, die Peter dort stapelt. Er ist bereit alles für seine Zeitung zu geben. Inzwischen wurde ihm das Wasser und das Internet abgeschaltet, er kann die Rechnungen nicht mehr bezahlen. Deshalb aufgeben? Niemals! Peter ist Chefredakteur und Herausgeber, Fotograf und Autor. Und auch zuständig für den Vertrieb. 2000 Exemplare bringt er alle zwei Wochen zu den rund 60 Verkaufsstellen. So kommt es, dass ich auf der Wortwalz sogar mal mit einem Chefredakteur sein Blatt austrage. Die Kioskverkäufer sind begeistert von seiner Zeitung, an vielen Orten ist sie ausverkauft, die Leute fragen danach. Aber wenn man Peter dabei zuguckt, wie er die Ein-Euro-Münzen aus seinen stummen Verkäufern schüttelt, kann man auch kurz an der Zukunft des Journalismus zweifeln.

Eigentlich ist es also Wahnsinn, was Peter macht. Aber es ist auch wahnsinnig inspirierend. Er will wirklich etwas für den Ort tun, an dem er lebt. Er schreibt sich um Kopf und Kragen für sein Blatt, das manche spöttisch als „Kunstprojekt“ betrachten. Er ist ein lässiger Typ – und fahrlässig leidenschaftlich. In seinen Editorials schreibt er: „Wir Harburger sollten endlich lernen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Und anfangen, uns gegenseitig zu unterstützen.“ Es rührt mich wie sehr sich jemand hinter seine Lokalzeitung stellen kann. Auch die Art, wie Peter andere von seinem Projekt begeistert ist funkensprühend: Ein Tattookünstler zeichnet die Illustrationen, ein Stahlbauer schmiedete ihm 50 kleine Verkaufsschiffchen als stumme Zeitungsverkäufer, seine Autoren, Layouter und Grafiker arbeiten ohne Lohn. Ein Unding, eigentlich, aber auch sehr schön.

Beim Harbuger Blatt habe ich gelernt, dass man manche Dinge im Alleingang durchziehen muss. Sein eigener Fan sein muss, unabhängig vom Urteil der anderen. Einen Artikel habe ich übrigens auch geschrieben. Über einen Mann, der Fotos von sich mit Prominenten sammelt. Der Harburger besteht darauf kein Autogrammkartenjäger zu sein und ist aber doch recht hartnäckig bei der Sache. Den Text werde ich frühestens in zwei Wochen hier zeigen können, wenn das nächste Harburger Blatt erscheint – denn die Zeitung gibt es nur gedruckt, nirgends im Netz. Einer der vielen Anachronismen, die Chefredakteur Peter Noßek sich herausnimmt. Im Meisterschnack mit ihm, den ich hier bald veröffentliche, verrät er mir, wieso er so stur und liebenswert an sein Harburger Blatt glaubt.

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Zurück zu den Wurzeln: Dass ich auf der Wortwalz nochmal Zeitung austrage, hätte ich nicht erwartet. Links mit Peter Noßek, dem Chefredakteur des Harburger Blattes, beim Fischimbiss Mimi Kirchner, rechts das selbstgeschmiedete Boot als stummer Zeitungsverkäufer

Eine Antwort auf Station #4 Harburg: Herzblutblatt
  1. Wortwalz sagt:

    Nachtrag: Die Zeit Hamburg hat später über Peters Zeitung berichtet, sehr hübsch: http://www.zeit.de/2014/43/harburger-blatt-journalismus-hamburg-medien