Meisterschnack #3 Birgit Müller

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Birgit Müller, Chefredakteurin Hinz&Kunzt

Bevor sie Chefredakteurin des Straßenmagazins Hinz&Kunzt wurde, war sie Lokaljournalistin beim Hamburger Abendblatt, Schwerpunkt: Soziales, Hafen und Gewerkschaft. Heute ist sie mit ihrem Blatt mehr denn je ein Hafen für Gestrandete. Im Meisterschnack* erzählt Birgit Müller, warum sie eine Recherchereise nach Rumänien nie vergessen wird und warum man bei klopfenden Herzen kritisch sein muss

1. Warum bist du Lokaljournalistin geworden? Mich hat das immer interessiert: Jedes Thema, jedes Problem, einfach alles lässt sich herunterbrechen auf eine kleine Welt. Die kleine Welt, in der ich lebe. Und dann interessiert mich natürlich, wie meine Nachbarn darüber denken. Im Lokaljournalismus habe ich das Gefühl, ich bin ganz nah dran und kann die Leute kennenlernen. Und vor allem kann ich im Kleinen viel eher etwas verändern als im Großen.

2. Wenn Aliens auf der Erde landen würden, wie würdest du ihnen deine Arbeit beschreiben? Ich würde erstmal vorne im Aufenthaltsraum einen Kaffee bei Spinne mit ihnen trinken. Spinne ist der Typ mit dem Spinnentattoo im Augenwinkel, der hinterm Tresen steht. Dann würde ich den Aliens mit Gesten andeuten, dass diese Leute hier eben kein Dach über dem Kopf haben und wir für sie diese Zeitung machen. Und dann würde ich die Aliens fragen, ob es bei ihnen auch Obdachlosigkeit gibt.

Wenn wir eine Sprache sprächen, würde ich sagen: Es gibt Menschen, die keine anderen Menschen haben. Aliens, die keine anderen Aliens haben, ganz allein. Die haben nichts, wo sie sich ausruhen und schlafen können. Und wir versuchen genau das zu ändern: Diese Zeitung soll ihnen einerseits Geld bringen, aber auch wieder Würde.

3. Was macht deine Lokalredaktion hier besonders? Bei uns ist vieles anders als bei klassischen Lokalredaktionen. Unsere Verkäufer sind Obdachlose oder Hartz-IV-Empfänger, mit denen haben wir hier täglich in den Räumen von Hinz&Kunzt zu tun. Viele Initiatoren für unsere Geschichten sind Verkäufer. Wir stellen auch politische Forderungen, die sich daraus ergeben, was wir hier erleben. Wir machen also Journalismus und Lobbyismus. Wir recherchieren nach, was Verkäufer uns von der Straße erzählen. Daraus entwickeln sich Ideen. Wir haben hier auch eine Sozialberatung und einen politischen Sprecher. Wir verstehen uns auch als eine Art Dienstleister, wenn einer unserer Verkäufer eine Bewerbung schreiben muss oder Hilfe braucht. Insofern sind wir mehr als nur eine Lokalzeitung.

4. Wie sieht die Hinz&Kunzt in zehn Jahren aus? Ich würde mir wünschen, dass wir das Projekt immer weiter entwickeln. Ob es dann Zeitung, Hochglanzmagazin oder Onlineseite ist, weiß ich nicht. Wir haben ja jetzt schon Sonderhefte, zum Beispiel zum Thema Essen & Trinken. Ich könnte mir vorstellen, dass die Hinz&Kunzt dann eine Illustrierte ist, in der das Soziale immer noch das Topthema ist, der Mensch an erster Stelle steht. Aber vielleicht gibt es dann auch Artikel von woanders. Wir gehören ja zu einem großen internationalen Verband der Straßenzeitungen INSP (international Network of Streetpapers) und tauschen uns dort weltweit aus.

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5. Was kann ich bei euch lernen? Ich glaube du kannst hier lernen, dass man auch in einem ganz alten Betrieb, der wir ja mit unseren 21 Jahren sind, ganz andere Strukturen finden kann. Wir arbeiten zwar professionell und haben eine Hierarchie, aber hier gibt es ganz unterschiedliche Mitarbeiter. Das ist eine Firma, in der jeder einen Platz hat.

6. An welche Geschichte erinnerst du dich noch heute? An meine Recherche in Rumänien. Weil sie meine Vorurteile so widerlegt hat. Als hier in Hamburg auf einmal viele Roma auf die Straße kamen und gebettelt haben, da war das für mich zunächst klar, dass das eine Bande ist. Ein Ausnutzungssystem. Jetzt habe ich mich über die Jahre immer mehr damit befasst und merke, dass es nicht so einfach ist. Meine Reise nach Rumänien hat mir gezeigt, wie wichtig es ist Vorurteile zu hinterfragen. Ich war dort in einem Dorf, in dem es wirklich überhaupt keine Arbeit gab. Die Menschen dort leben zwar in Häusern, aber wenn du gar keine Arbeit hast, fällt dir auch das Dach auf den Kopf. Und irgendwann musst du gehen. Und zwar nicht aus dem Grund, weil du gern ein Zigeuner wärst und tierisch Lust zu reisen hättest, sondern um dich zu ernähren. Valentina, eine junge Frau, die ich begleitet habe, hat zu mir gesagt: „Weißt du in Deutschland kann ich Dosenpfand sammeln und mir davon ein Brötchen kaufen, hier kann ich gar nichts machen.“ Nach meiner Reise habe ich über Valentinas Familie einen Bericht geschrieben. Daraufhin hat sich hier in Hamburg ein Leserkreis gegründet, der die Familie mit den drei Kindern unterstützt. Inzwischen gehen sie hier alle in die Schule und haben sich gut eingelebt.

7. Wie stellst du dir deine Leser vor? Unser Leser ist etwas älter, sozial interessiert, sehr auf Hamburg bezogen. Er ist bereit zu helfen, will etwas wissen und ist emotional. Unser Leser ist aber auch nicht ohne Vorurteil. Mancher geht davon aus, dass keiner ohne eigene Schuld obdachlos geworden ist. Wenn dann Protagonisten von ihrer Sucht erzählen, fangen sie an zu grübeln. Unsere Leser sind auch die Kunden der Verkäufer. Sie sind die, denen die Verkäufer ganz viel zu verdanken haben. Einige Verkäufer haben über ihre Kunden eine Wohnung gefunden oder Freunde – oder sogar die Frau fürs Leben. Daraus ist sogar schon eine Ehe entstanden, der Sohn der beiden hat neulich bei uns Praktikum gemacht.

8. Wie kommunizierst du mit deinen Lesern? Es gibt einen Freundeskreis, der regelmäßig Post bekommt. Wir bieten Stadtrundgänge mit unseren Verkäufern zum Thema Obdachlosigkeit an. Und der direkteste Kontakt kommt auf der Straße zustande.

9. Auf der Walz lernen Gesellen die Geheimrezepte ihrer Meister. Welches kannst du mir verraten? Offenheit den Menschen gegenüber. Jedem Gegenüber seine Chance zu geben. Aber auch die Erfahrung: Da, wo du dich aber am meisten engagiert, solltest du dich auch am kritischsten fragen, ob du nicht falsch liegst. Ein Beispiel: Ich habe mal in Kurdistan recherchiert und war der Sache der Kurden sehr aufgeschlossen. Vor Ort habe ich dann manchmal gemerkt, dass ich zu nah dran war. Ich musste Vieles später nachrechercherieren. Für mich war das eine wahnsinnige Lehre, dort wo mein Herz schlägt auch am kritischsten zu sein.

10. Was tust du, um das Aussterben unserer Zunft zu verhindern? Schreiben. Wir machen in schlechten Zeiten ein gutes Blatt. Ich finde auch Onlinejournalismus eine ganz wunderbare Geschichte. Du machst ein Portrait über einen Obdachlosen und siehst und hörst ihn dann im Netz. Ich glaube bei Nischenthemen wird der Printjournalismus so schnell nicht aussterben. Wir sind nicht auf Nachrichten angewiesen. In der Tat: Eine Nachrichtenzeitung wird es schwer haben. Aber umso mehr ungefiltertete Nachrichten man über das Internet bekommt, umso mehr braucht man auch wieder den geschulten Journalisten.

Bild 2Hinz&Kunzt auf einen Blick: Auflage: Zwischen 60.000 und 80.000 verkauften Exemplare im Monat Einzugsgebiet: Hamburg Redaktion: 2 Festangestellte (Chefredakteurin und Volontär), etwa 10 Freie und 500 Straßenverkäufer Onlineauftritt: Die Seite wird vom Facebookauftritt und Twitterprofil ergänzt

 *In der Rubrik Meisterschnack veröffentliche meine Gespräche mit den Chefs der Lokalredaktionen, in denen ich gerade arbeite. Ich stelle allen die gleichen zehn Fragen und bin gespannt, welche Geheimnisse der Zunft sie mir verraten. Habt ihr Anregungen, Kritik, wollt ihr etwas anderes wissen? Dann schreibt mir!