Vagabundin lebt im Vagen

Nele will anders Wohnen. Deshalb nennt die Weimarer Kunststudentin einen Wagen ihr Zuhause

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Wenn Nele über das Dach ihres Palastes läuft, dann klingt es blechern. Das Gewölbe biegt sich unter ihren Füßen, wenn sie mit ihren Wanderschuhe Schritte darauf setzt. Ein Zuhause, auf dem man herumklettern kann. Heute will Nele die Solarzelle neu ausrichten. Also klettert sie ihrem Heim aufs Dach.

Nele, 22, Kapuzenpulli, studiert freie Kunst an der Bauhaus-Uni in Weimar. Bürstenkurze Stirnfransen lugen unter ihrem Stirnband mit Katzenmotiv hervor. Die schönen buschigen Augenbrauen zeugen vom Trotz der gebürtigen Dresdnerin. Den braucht es auch, um so ein Leben zu wählen: Hier draußen, weit außerhalb der Komfortzone.

Wenn Nele morgens in die Uni radelt, bergauf, bergab, dann kommt sie aus einer anderen Welt angereist. In dieser Welt, vor den Toren der Stadt, wuchert das Unkraut, wachsen die Apfelbäume. Man holt in dieser Welt Wasser in Plastikkanistern aus dem Brunnen und hackt Holz für den kleinen Brennofen. Man geht aufs Kompostklo und diskutiert im Plenum. In dieser Welt kocht man selbstgezogene Zucchini auf dem kleinen Gasherd im Gästewagen. Wer vorbeikommt, darf mitessen.

„Wir sind hier draußen ein bisschen wie Flüchtlinge vor dem Rest der Welt“, sagt Nele. Als sie vor zwei Jahren nach Weimar kam, stand für sie fest, dass sie nicht in ein Zimmer, eine Studenten-WG ziehen würde. Ihr neues Zuhause baute sie selber, innen holzverschalt, gemütlich mit Bett und Retro-Stuhl. Außen die pinke Treppe und die Regentonne, an der Wand ein Sticker aus alten Zeiten, als der Wagen noch auf einer Baustelle stand: „Beim Fahrer gibt’s BILD.“ Nele muss lachen.

Wenn sie in die Uni kommt, dann fühlt sie sich etwas fremd, manchmal schmutzig. „Ich sehe ja die Blicke meiner Kommilitonen, wenn ich mit meinem matschigen Schuhen reinkomme“, sagt Nele. „Aber ich habe auch keine Lust, den Leuten ständig zu erklären, wo ich mich dusche.“ Deshalb erzählt sie nicht groß rum, wie sie lebt. Auch weil die anderen Bewohner dieser Welt am Rande Weimars nicht wollen, dass zu viel darüber gesprochen wird. Deshalb bleibt der wildwüchsige Ort geheim.

Wen Nele in ihren Wagen lässt, der staunt über den Komfort der Genügsamkeit. Ein kleiner Bereich zum Schuheausziehen trennt den Eingang vom Wohnzimmer. Rote Gummistiefel stehen da. An der Wand hängt ein Maderposter, daneben ein hölzernes Architekturmodell ihres Freundes. Auf dem Tisch liegt ein halber Laib Brot, daneben ein Opinel-Messer. Alles rustikal, bescheiden, nützlich. Die Solarzelle auf dem Dach spendet Strom für Licht und Laptop. In diesem Reich lebt die 22-Jährige so autark, wie sie es mag.

Schon mit ihrer Mutter hat sie in Wohnprojekten und auf Wagenplätzen gelebt. „Ich will mein Zuhause selbst gestalten können und nicht beim Vermieter fragen müssen, ob ich die Wand streichen darf“, sagt Nele. Bevor sie ihr Heim betritt, wäscht sie sich die Hände in der Regentonne. Vorsichtig, damit kein Seifenschaum in den Wasserspeicher gelangt. 30 Euro Vereinsbeitrag zahlt Nele jeden Monat. Besser investiert als jede Miete, findet sie. Davon profitieren alle hier.  Auf dem Gelände wird überall getüftelt, gebohrt, gehämmert. Ein Pizzaofen, ein Badezuber, ein Gemüsebeet. Die Menschen hier kümmern sich um ihre Umgebung, reinigen den Bachlauf, machen hin und wieder Projekte für Kinder. Es ist ein kauziger Ort, aber auch ein liebevoller, gemütlicher Hort für Menschen, die ein anderes Leben wagen.

Manchmal wird Nele nachdenklich, wie politisch ihre Art zu leben ist. „Wir könnten auch in die Städte gehen und dort Häuser besetzen“, sagt sie und lässt den Blick über die Wiesen wandern, „stattdessen ziehen wir uns hierhin zurück.“ Die junge Frau ist Herrscherin eines selbstgebastelten Königreiches. Und doch hadert sie manchmal damit. „Das Leben hier macht rau“, sagt Nele. Nie ganz sicher könne man sich sein, ob man wirklich bleiben dürfe. Weiter geduldet werde. Der Verein hat das Gelände gepachtet, doch wohnen darf man hier offiziell nicht.

Manches an diesem Leben ist auch gar nicht so wildromantisch, wie man einer mit Aussteigerträumen es sich vorstellt. Wenn Nele im Winter mal ein paar Tage nicht da war, dauert es lange, bis sie den Wagen wieder warmgeheizt hat. Dann sitzt sie im Schneeanzug auf der Bettkante und wartet. Stundenlang. Doch auch wenn Nele in einer juristischen Grauzone lebt, kann sie sich auf eines verlassen: Das Leben hier ist bunter.