Station #3 Hamburg: Wo ist Zuhause?

Eine Lektion in Losigkeit bei einem gemütlichen Abend unter der Brücke

"Unter der Brücke"

Platte machen: Unter dieser Brücke habe ich mit Verkäufern des Straßenmagazin Hinz&Kunzt geschlafen. Foto: Mauricio Bustamante

Auf Reisen gehen heißt Gewohntes zurückzulassen, den Rucksack zu packen und die Siebensachen wie ein Schneckenhaus auf dem Rücken durch die Gegend zu tragen. 20, 30 Gegenstände müssen reichen, ein Taschenmesser, eine Deutschlandkarte, ein Tagebuch. Da erscheint es mir bisweilen irrsinnig, wie viele Dinge, Kleidungsstücke und Besitztümer ich sonst Zuhause anhäufe.

Jetzt habe ich alles, was ich brauche in meinem Rucksack. Und treffe Menschen, die Besitzlosigkeit als Dauerzustand erleben. Zur Zeit bin ich in Hamburg beim Straßenmagazin Hinz&Kunzt. Außerdem bin ich freiwillige Helferin beim Besuch des Dalai Lama. Ein seit Monaten geplanter Einsatz, den ich wegen der Wortwalz nicht absagen wollte. Zuerst hätte ich gar nicht gedacht, dass diese beiden Ereignisse etwas miteinander zu tun haben könnten. Aber der Reihe nach…

„Niemand kennt Hamburgs Straßen besser“ , das ist das Motto der Hinz&Kunzt, die sich bewusst nicht als „Obdachlosenzeitung“, sondern als „Straßenzeitung“ betitelt. Für 0,90 Euro kaufen die Verkäufer das Heft, für 1,90 Euro verkaufen sie es auf der Straße. Die Redaktionsräume liegen gleich neben Aufenthaltsräumen und einer Sozialberatung für Obdachlose. Man kommt hier um ein Thema nicht herum: -losigkeit. In jeder Form. Im Gespräch mit den Verkäufern der Zeitung geht es natürlich oft um Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Um Heimat- und Ruhelosigkeit. Aber auch um Sorglosigkeit. Denn manch einer, der auf der Straße lebt, entscheidet sich bewusst dafür, das Rennen ums große Geld nicht mehr mitzumachen. Wer weniger hat, muss sich auch um weniger Dinge Sorgen machen.

"Unter der Brücke"

„Ohrenstöpsel sind dein Tod auf der Straße“, verriet mir Assel zum Draußenschlafen in der Stadt. Foto: Mauricio Bustamante

Ich wollte mehr lernen über das Weniger-Haben. Und über das Draußenschlafen in der Stadt. Bisher habe ich in Wäldern, auf Spielplätzen und in Ziegenställen übernachtet, wenn ich nicht bei Redakteuren oder Freunden auf dem Sofa unterkam. Aber in einer Großstadt, da hatte ich keine Ahnung, wo man sich hinlegen kann. Also fragte ich nach. Und fand Ronny, Dennis und Assel. Die drei Obdachlosen machen zusammen Platte in der Hamburger Hafencity und nahmen mich für eine Nacht mit unter die Brücke.

Der Text, den ich über diese Nacht für die Hinz&Kunzt geschrieben haben, wird erst in einigen Wochen erscheinen. Dann wird man auch hier nachlesen können, wie überrascht ich war mit den Obdachlosen unter der Brücke Pizza zu bestellen und Fernsehen zu gucken. Es gab jedenfalls viel zu lernen und ich bin sehr dankbar für diesen Einblick in das Leben auf der Straße. Knicks an Dennis, Assel und Ronny.

Die Nacht auf der Straße steckte mir noch in den Knochen, da fiel mir im Supermarkt die NEON in die Hände. Ein Artikel* über Luxusobdachlose machte mir zu schaffen. Ist das in Ordnung junge Leute, die ständig bei Freunden auf dem Sofa schlafen, mit diesem Begriff zu bezeichnen? Außerdem frage ich mich: Bin ich ein Schmarotzer? Ich nehme die Gastfreundschaft fremder Menschen ohne Not in Anspruch, während andere sie vielleicht dringender bräuchten. Ist es okay, drei Monate lang nur zu nehmen – Essen, Schlafplätze, Hilfe –  während man nichts zu geben hat, außer Geschichten vielleicht? Meine Antwort  ist: Ja. Das geht in Ordnung. Ich freue mich über all die Geschenke und versuche sie damit aufzuwerten, dass ich allen davon erzähle, wie gut die Menschen da draußen sind. Und so schließt sich der Kreis. Denn eine buddhistische Nonne, über die ich mal einen Text geschrieben habe und die ich nun beim Dalai-Lama-Besuch wiedertraf, sagte mal zu mir: Jeder der ein Geschenk annimmt, ermöglicht damit auch dem anderen ein Schenkender zu sein.

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Bei der Pressekonferenz der Dalai Lama habe ich als ehrenamtliche Helferin mitgewalzt

Deshalb freue ich mich über jede Gelegenheit mal etwas zurückzugeben. In der Redaktion von Hinz&Kunzt hat mich der menschliche Umgang begeistert, bald werde ich hier dazu noch einen Meisterschnack mit der Chefredakteurin veröffentlichen. Bis dahin schnorre ich mich durch die Republik – mit großem Grinsen!

*In dem Text tauchte überdies nicht nur das Wort Walz auf, sondern auch Zitat von Jack Kerouac, das hier einfach hingehört: „Was ist das für ein Gefühl, wenn man wegfährt und die Menschen, die man zurücklässt, auf der weiten Ebene immer kleiner werden (…)? Zu groß ist die Welt, die sich über uns wölbt – das ist Abschied. Vor uns aber lag das nächste verrückte Abenteuer unter dem Himmel“

PS: Ich verspreche bald wieder mehr über den Lokaljournalismus zu erzählen. Gerade lasse ich mich auf die langsame Form des Reisens sehr ein und hinke ein bisschen in der Berichterstattung hinterher. Aber wisst ihr was: Macht Spaß.